Die natürlichen Grenzen der Marktforschung oder drei Arten, ein Unternehmen zu ruinieren: wenn das klare Denken zugunsten dubioser Alternativen vernachlässigt wird, wenn riskante Spiele getrieben werden oder wenn Entscheidungen sich auf Marktforschung stützen.

Marktforschung ist eine gute Sache. Die Verknüpfung mit dem Internet hat in Sachen Geschwindigkeit und Möglichkeiten ganz neue Dimensionen eröffnet – verständlich, dass hier und jetzt die Grenzen mit vollem Elan ausgelotet werden. Nur darf man bei all diesen Optionen etwas nicht außer Acht lassen: Dienen die Ergebnisse, die ich bekomme, zur Verdichtung des Marken- kerns? Oder lediglich dem Entdeckungstrieb der Marktforscher? Überspitzt gesagt – heute werden viel zu viele Online-Marktforschungen mit viel zu wenig Aussagekraft betrieben, etwa:

  • 60 Prozent aller Frauen sind mit ihrem Arsch zufrieden.
  • 35 Prozent sind der Meinung, er ist zu dick.
  • Und 5 Prozent würden ihn wieder heiraten.

Verzeihen Sie die Ausdrucksweise – ich benutze dieses Beispiel gern, um aufzuzeigen, dass Marktforschung heute viele Fragen zu über Bord, in der Hoffnung, neue Anhaltspunkte herauszufinden.

Heute ist Marktforschung zu einem herausfordernden Werkzeug geworden. Einerseits helfen Online-Umfragen natürlich, schneller und mehr Leute zu befragen: Aber wie ehrlich fallen die Antworten aus? Nicht selten beteiligen sich Menschen mit falschem Alter oder Beruf. Sind die Antworten trotz- dem ernst zu nehmen?

Ich glaube, es ist wichtig, Marktforschung wieder in die richtige Perspektive zu rücken. Denn sie ist durchaus ein relevantes Hilfsmittel, soll uns aber keine Entscheidung abnehmen. Selbst erlebt: Ein TV-Spot fiel im Pre-Test gnadenlos durch. Trotzdem entschied sich das Marketing-Gremium dafür, den Film auszustrahlen, weil man an Botschaft und Machart glaubte. Und siehe da, der Film wurde zum Erfolg. 

Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, aber eines ist für mich klar: Marktforschung macht nur Sinn, wenn sie zeitlich wie inhaltlich stets mit dem gleichen Strickmuster durchgeführt wird – nur so entstehen Werte, die sich vergleichen lassen und die relevante Informationen liefern. Sporadische Umfragen ohne roten Faden? Nein, daran glaube ich nicht.

Ist das Glas halb voll oder halb leer?

„Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst manipuliert hast“, lautet eine alte Redewendung. Ob jemand das Glas als halb leer oder halb voll beurteilt, ist reine Ansichtssache. Sprich, wie auch immer eine Umfrage ausfällt, dem Marketing-Leiter steht es offen, sie nach seinem Gusto zu interpretieren. Wenn es ganz dick kommt und die Ant- worten einfach nicht ins Konzept passen wollen, lässt sich die Studie immer noch mit Worten wie „Die Grundgesamtheit war zu klein“ in Zweifel ziehen.

Was nicht heißt, dass die Ergebnisse gleichgültig sind. Denn – Hand aufs Herz – heute stechen Marktforschungszahlen in vielen Text: Wolfgang Frick Diskussionsrunden den gesunden Menschenverstand aus: Schließlich lässt sich hinter den Zahlen das eigene Urteilsvermögen verstecken.

Warum aber lassen wir nicht ganz einfach die Kunden entscheiden? Nun ja, dahinter verbergen sich gelernte, bewährte Abläufe: Die Agentur kommt, präsentiert eine Kampagne mit fundierter Analyse, entwickelt mit plausiblen Modellen und antizipierten Kundenreaktionen. Et voilà, die Marketing- Entscheider sind beeinflusst und bilden sich ihre Meinung, noch bevor ein Test gemacht wird. Was dann passiert, haben wir eben gelesen.

Wäre es aber nicht sinnvoller, wenn die Agentur ihre Arbeit zuerst ohne Erklärung auf einem Monitor potenziellen Kunden zeigt, und zwar nicht länger als zehn Sekunden – das ist die durchschnittliche Betrachtungszeit einer Website – und die Resultate dann auswertet? Gefällt es? Was fällt auf? Was bleibt in Erinnerung? Danach lässt sich entscheiden: Briefing erfüllt – oder eben auch nicht.

Dazu fehlt vielen der Mut, Marketeern wie Agenturen: Einerseits hält man sich selbst für klug genug, andererseits fürchtet man sich bei einem emotionalen Thema wie dem Marketing vor den nackten Zahlen. Zu Recht übrigens, denn sie allein können kein Entscheidungskriterium sein.

Zudem wächst mit der Entwicklung von Maßnahmen auch der Glaube daran, dass sie am Markt schon funktionieren werden: Wenn man bei der Schnittabnahme den Jingle eines TV-Spots wieder und wieder und wieder hört, bleibt er unweigerlich im Ohr hängen. Wie aber geht es einem Konsumenten, der den TV-Spot sieht, gleichzeitig Erdnüsse knabbert und auf dem „Second Screen“ surft?

Das wird häufig vergessen, was auch erklärt, dass in Unternehmen manchmal unrealistische Erwartungen herrschen und Enttäuschung einkehrt, wenn der Kunde nicht gleich reagiert, nachdem er besagten Spot zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hat: Versprach nicht das Marketing, gestützt von hervorragenden Marktforschungszahlen, dass genau diese Kampagne die richtige sei? Warum schießt dann der Umsatz am nächsten Tag nicht in die Höhe? Weil es eben Zeit braucht, bis eine Botschaft beim Konsumenten ankommt! Marktforschung hin oder her.

A oder B? Oder vielleicht C?

Die neuen Möglichkeiten in Sachen Marktforschung treiben lustige Blüten: So lässt man immer häufiger drei, vier Kampagnen ausarbeiten und testet, welche besser funktioniert. Weil alle nicht so schlecht abschneiden, produziert man dann gleich alle – schließlich bekommt man dafür bessere Preise bei Fotografen, Filmproduktionen und Agenturen.

Dieses Vorratsdenken aber ist im Marketing vollkommen falsch, die Märkte verändern sich dafür viel zu schnell: Testimonials z. B. werden schwanger, kommen aus der Mode oder erleiden Misserfolge, die der Marke schaden. Da hilft es wenig, wenn die Vorratskammer voll ist mit weiteren Motiven und Anzeigen.

Marktforschung beeinflusst auch die Mediaplanung massiv: Argumentiert wird mit Affinitätsindex, Deckungsgrad der Zielgruppe und vielem mehr. Anders ausgedrückt: Die Marktforschung dient als abschließender Beweis dafür, wie Medien wirken. Ich bin überzeugt, dass dabei lediglich Veränderungen im Marginalbereich entstehen. Denn Marketeer, die ihren Markt und ihre Marke kennen, besitzen das Gespür dafür, wo sie ihre Zielpersonen finden. Marketing ist kein Medikament und schon gar kein Rezept für eine Standort-Fehlentscheidung: Befindet sich ein Verkaufsgeschäft nicht an einer 1A-Lage, wird es ganz automatisch Frequenzprobleme geben, zumindest im Vergleich zu den Top-Performern. Da kann Marketing zwar unterstützend helfen, um Frequenzen anzuheben – Marktforschung aber wird immer nur den Makel feststellen, nie Lösungen präsentieren.

Ein Beispiel dazu: In Zusammenarbeit mit renommierten Professoren und Hochschu- len wurde in einer großen Schweizer Stadt ein neuer Standort geplant, mit tiefgehenden Analysen zur Laufweg-Planung und vielem mehr. Die Marktforschung prophezeite eine blühende Zukunft, die Realität allerdings sah etwas anders aus: Die geringe Filialnetz-Dichte bescherte Kunden nämlich eine lange Anreise. Die Frequenz war schnell einmal zu tief, ebenso wie der durchschnittliche Einkauf. 

Kurzum: Die vorbildlich geplante Filiale starb in Schönheit, weil der Kunde nicht so wollte, wie es die Marktforschung voraussagte. Natürlich wurde bis zum Eingeständnis der Fehlentscheidung erst noch öfters umgebaut. Was daraus zu lernen ist: Konzentrieren Sie sich bei der Planung nicht nur auf sich und Ihr Geschäft, sondern berücksichtigen Sie stets auch externe Einflüsse wie in diesem Fall Verkehrsströme und Fahrzeugführung. 

Schicken Sie Ihre Marke zum Psychiater

Es gibt drei Arten, ein Unternehmen zu ruinieren: Wenn das klare Denken zugunsten dubioser Alternativen vernachlässigt wird, wenn riskante Spiele getrieben werden, oder wenn Entscheidungen sich auf Marktforschung abstützen. Die erste Art ist zweifelsohne die verführerischste, die zweite die spannendste und die dritte mit Abstand die sicherste.

Das ist, ohne Zweifel, böse, aber nicht ohne Grund gesagt. Stichwort „Interne Marktforschung“ – die liegt im Trend und funk- tioniert so: Externe Markenberater veranstalten mit Geschäftsführung und Marketing-Leitern unzählige Workshops, um eine Marke zu ergründen. Das ist ein bisschen so, als wenn man die Marke auf ein Sofa beim Psychiater legt. Ein Selbstfindungsprozess also.

Das klingt vielleicht so, als würde ich mich darüber lustig machen, was jedoch nicht der Fall ist. Es tut nämlich immer gut, wenn man sich einen Spiegel vor die Nase hält. Und jede Information hilft, den Kern einer Marke weiter zuzuspitzen. Aber stützen Sie Ihre Beurteilung nicht nur auf Marktforschung!

Heute pflegen wir einen Hang dazu, alle Antworten am Schreibtisch finden und logisch erklären zu wollen. Unzählige nüchterne Tests werden dabei durchlaufen, nur: Wir sind schlicht und einfach nicht in der Lage, alle Möglichkeiten abzudecken. Und der Mensch, sprich unser Kunde, reagiert nicht rational, sondern emotional.

Zudem zeigt ein nüchterner Blick in die Befragungspraxis, dass Kunden heute so oft nach ihrer Meinung befragt werden, dass es sich dabei um eine inflationäre Entwicklung handelt. Damit sinkt die Ernsthaftigkeit bei der Beantwortung der Fragen.

Richtig gefährlich wird es, wenn als Motivation ein Wettbewerb oder Gewinnspiel zum Einsatz gelangt: Dann nämlich entstehen Antworten mit Seitenblick auf den Hauptgewinn – sprich, Teilnehmer wollen sich die Gewinnchancen nicht mit falschen Antworten verderben. Das Resultat sind Zahlen, die schlicht nicht aussagekräftig genug sind. Darum mein Plädoyer für „Bauchentscheidungen“, die natürlich auf Analysen gestützt sind, aber nicht von Zahlen der Marktforschung erstickt werden.

 

Quelle: a3MMA, Mai 2014, S.16-17